Stadt als Kulisse No. 3: Tel Aviv
Bei der Bewerbung an der Kunstuni meinte mein damals noch zukünftiger Professor zu mir, hier ginge es nicht um meinen letzten Urlaub, als ich anfing, Collagen aus Fotos von der gerade beendeten Brasilienreise anzufertigen. Und jetzt, Jahre später, meinte ein Freund, als ich von dem Plan erzählte, einen Artikel über Tel Aviv zu schreiben, ob das jetzt „mein schönstes Ferienerlebnis“ werde. Natürlich nicht.
Aber dass Architektur Einfluss nehmen kann auf das Befinden der Menschen, die sich in ihr aufhalten – sei es in einem Raum, einem Zimmer, einer Markthalle, in einer Stadt, auf einer Bühne – ist ein längst bekannter Gedanke. Dass Architektur gezielt eingesetzt wird, um diesen Einfluss zu nutzen, ist in allen Möglichen Kontexten gang und gebe. Auch, dass jemand, der sich mit Raum beschäftigt, zum Beispiel als Architekt, Stadtplaner oder Bühnenbildner, darauf besonders acht gibt, liegt auf der Hand. Dass ich auf jeden Hinterhof renne, um nachzuschauen, was dort vor sich geht, in jede Brache klettere, um Fotos zu machen, dass ich mit Berlin und Venedig in Städten aufgewachsen bin, deren Grundrisse besonders viele Geschichten auf Lager haben, hat alles mit meinem Blick auf die Welt zu tun, der auch eine „Bühnenbildnerische“ Komponente hat und den ich auch nicht ablege, wenn ich neue Städte bereise. In jeder Straße frage ich mich, wie es wäre hier zu leben, bei jedem Balkon, was er mit den Menschen macht, die ihn bewohnen.
In Tel Aviv hatte ich außerdem das Gefühl, dass einerseits der Einfluss, den die Architektur nehmen will, besonders hoch ist und dass andererseits die Menschen besonders stark davon beeinflusst sind.
Schon die Einreise über den schönsten mir bekannten Flughafen, der gleichzeitig repräsentatives Infrastrukturprojekt und Einführung in das ist, was einen hier erwartet: klare schöne Architektur, jerusalemer Stein, Glas und Stahl, Sauberkeit, Größenwahnsinn, Geschmack.
Es ist eine Statementstadt, anders kann ich es nicht beschreiben. So viel Beton, Glas, Stahl und weißer Putz hier zum Einsatz gekommen sind, sie fügen sich fast schon zu leicht zusammen zu einem Bild, einem Bild, das man sehen soll. Es ist meistens klar, sauber und frisch, der Bauschutt hat sich gelegt, nur hier und da wurde mal ein Haus aus Versehen bunt angemalt oder der Putz bröckelt und darunter sieht man den angelaufenen Beton an den geschwungenen Balkonen, muss sich den weißen Anstrich vorstellen.
Eine Bauhauskulisse, bestehend aus Bauhausvillen, gebaut an gartenstädtischen Bauhausboulevards. Ausgerechnet Bauhaus denke ich, ist doch erstaunlich, dass sich ein ideologisch begründeter Staat eine so hübsche Architekturepoche zur Repräsentation auserwählte. Gar nicht so alte schwarz-weiß-Bilder beweisen, dass vor wenigen Jahrzehnten das hier alles noch Sanddünen waren, schwer vorstellbar. Ich bin erstaunt, dass man in so kurzer Zeit und unter so einem Druck, zu bauen, sich trotzdem die Zeit genommen hat, so schön zu bauen, die Form zu wahren. Und dann hier noch ein Park mit Liegestühlen, und hier ein Kräutergarten, in dem sogar Chopin läuft, auf dem Vorplatz der frisch renovierten Habimah, dem israelischen Nationaltheater. Übrigens gebaut von Oskar Kaufmann, der auch für das Hebbel am Ufer, die Volksbühne, das Theater am Kurfürstendamm und das Renaissancetheater in Berlin und das Stadttheater Bremerhaven, an dem ich gerade arbeite, verantwortlich ist. Heute ist hier Kostümabverkauf, Purim steht vor der Tür. Die Grundatmosphäre ist entspannt, es ist schön. Nix funktioniert, aber niemanden stört’s. Zwischen arabischen Märkten, Shopping in kleinen Boutiquen und großen Centern, französischen Brasserien an besagten Boulevards und W-Lan in der ganzen Stadt ist anscheinend für jeden was dabei.
Ob einem eine geschmackvoll gestaltete Stadt Geschmack anerziehen kann? Jedenfalls sind alle wahnsinnig geschmackvoll gekleidet. Oder ob es einen unter Druck setzt?
2011 fanden in Tel Avivs Straßen die ersten großen Sozialproteste der jungen Geschichte Israels statt, und zwar mittels einer Zeltstadt ausgerechnet auf dem Rothschild Boulevard, dem vorzeige-Bauhaus-Boulevard der Stadt. Es ging explizit um Wohnraumverknappung und explodierende Mietpreise, aber auch um die große soziale Ungerechtigkeit im Land; ein viertel der Bevölkerung des Landes lebt unter der Armutsgrenze. Es stimmt, trotz der Überschaubarkeit des innerstädtischen Raums gibt es zwischen den mit Bauhausvillen gesäumten chicen Straßen im „reichen“ Norden, dem geballten Zentrum, den teilweise von Hipstern neubelebten Warehouses auf dem Weg (die Getrifizierungsgrenze ist sehr klar gezogen) und schließlich den schäbigeren Gegenden um den Busbahnhof im „armen Süden“ nicht nur ein, durchaus interessantes, ästhetisches Gefälle, sondern auch ein soziologisches. Wohnraum in der Stadt ist teuer, und das können sich nicht alle leisten.
Eine Freundin erzählt von einer ständig geladenen und überspannten Atmosphäre, gerade unter den jungen Menschen – als wären alle die ganze Zeit auf Amphetamine. Kein Wunder, zwischen Bikinis am Strand und mit MGs behängten Soldaten und Soldatinnen, die scheinbar nur durch die Straßen schlendern, sind es wenige Meter. Ich hätte auch nichts dagegen, wenn die Läufe nicht ständig auf lebenswichtige Körperteile der umstehenden Personen zielen würden, aber hier wird scheinbar wenig darauf geachtet. Apropos Amphetamine, das vielfach gerühmte Partyleben entpuppt sich als Abschleppleben („Yalla, Yalla!“) aber trinken kann man hier überall schön. Vodkaaperol ist das Getränk der Stunde, eingenommen draußen sitzend, auch im Februar, nebenan probt gerade eine Band, so gibt’s auch Live-Musik.
Und immer wenn man nicht mehr weiß, wohin: natürlich ans Meer. Als wäre Urlaub hier immer in Laufnähe. Badewetter ist noch nicht, aber eine neugebaute Promenade führt am Wasser entlang bis nach Jaffa. Dort, wo sie anfängt, steht das Dolphinarium, eine ehemalige Disco und Strandbar im Bauhauschic mit Terrasse direkt über der Brandung, dass bei der zweiten Intifada, 2001, bei einem Selbstmordattentat ausgebrannt ist. 21 Jugendliche sind damals beim discoschlangestehen umgekommen, jetzt ist das Gebäude dem Verfall ausgesetzt, ein Denkmal für sich selbst. Hier ist anscheinend jeder Ort aufgeladen mit Geschichte, mit neuerer und uralter. Zum Beispiel stelle ich mir so ungefähr die Geschichte von Jona und dem Wal vor, die sich am 4000 Jahre alten Hafen von Jaffa ereignet haben soll: da sitzt Jona am Wasser, Anfang 30, mal wieder single und ohne rechten Plan für sein Leben, gesteht er sich selbst in dieser rührseligen Minute zum ersten mal ein, dass die sinnvollste Zeit seines Lebens wahrscheinlich die 3 Jahre Armeedienst waren; obwohl nichts Großes dabei passiert ist, keine gefährlichen Einsätze oder traumatisierenden Erfahrungen, aber irgendwie hatte man doch das Gefühl, an etwas Größerem beteiligt zu sein – er sitzt da also und seine Schicht im Container fängt gleich an, und er hat echt überhaupt keine Lust mehr, auf das Ganze hier – und dann kommt der Wal und nimmt ihn mit an weit entlegene Ufer…
Jetzt ist dieser Hafen gesäumt von einigen zu hippen Restaurants umgebauten Lagerhallen, dazwischen, ganz malerisch, ihre Netze flickende Fischer, dahinter, noch malerischer, dafür aber perfekt rausgeputzt, das auch fast 4000 Jahre alte Jaffa, Stein, Treppen, Gewölbe, uralte Brunnen, zwischen den labyrinthartigen Gässchen immer wieder Blick aufs Meer. (Im Meer: Kayakbasketball, eine nahöstliche Mittelmeetrendsportart, die noch perfektioniert werden muss – das Problem: wie fängt man den Ball während man paddelt?)
Nochmal dahinter: das neue Jaffa, überbrodelnd mit Warehouses, bis an die Decke gestopft voll mit den passenden 60s, skandinavian design, Teakholzmöbeln und Vintagekitsch bis -Schick für die Bauhausstadt 5 km weiter nördlich. Ich will alles haben.
Kleiner Ausflug nach Jerusalem, ich irre stundenlang durch überdachte und in meiner Wahrnehmung immer enger und niedriger werdende Gässchen, am Anfang gibt es noch Made-in-China-Andenken und arabischen Kitsch, dann immer obskurere religiöse Devotionalien aller Art und plötzlich steht man zwischen den gerade schließenden Fleischständen, auf dem 5000 Jahre alten Steinboden werden mit Wasserspritzen die Blutreste weggeputzt. Ein kleines Metalltreppchen führt auf die Dächer der Stadt, endlich kann ich durchatmen, hier hört man Muezzin und Glockengeläut nur noch wie aus der Entfernung. In der Grabeskirche geht es ähnlich zu wie in den Gässchen, Menschenmassen zwängen sich die engen Treppchen und Gänge entlang, üben scheinbar extatisch obskure rituelle Handlungen aus, schieben sich gegenseitig von Altar zu Altar und somit von christlicher Glaubensrichtung zu christlicher Glaubensrichtung. Den Schlüssel zur Grabeskirche bewahrt eine muslimische Familie auf – damit es nicht zu Streit unter den Christen kommt. Ich bin total verwirrt. Durchatmen im genauso labyrinthischen aber sehr ruhigen jüdischen Viertel, es ist Shabbat, ein letzter Blick auf die Klagemauer; der Sonnenuntergang spiegelt sich auf der goldenen Kuppel des Felsendoms, gleich ist Shabbat zu Ende und die Busse fahren wieder. Abends, zurück in der kleinen WG in Jaffa, Künstlerin und Yoga-Lehrerin, Essen bei den Nachbarn, jeder bringt mit, was er grad so gekocht hat: Börek, gefüllte Artischocken, Kartoffelauflauf. An der Wand ein 3D Wackelbild mit, je nach Blickwinkel, Jesus oder Maria, man streitet sich ob es Jesus oder Maria sei, bis jemand sagt „It’s both!“. Judenwitze werden auch gemacht, die dürfen das ja, und das Gespräch geht vom Selbstbild Israels über Selbstlüge zu Rassismus. Außerdem geht es um die durch easy jet möglichgemachte neuentfachte Israelisch-Deutsche Freundschaft: Strand für die Berliner, Berghain für die Israelis.
Dann, 6 Uhr morgens, dunstiger Sonnenaufgang über den Golan-Höhen auf den Dächern Jaffas. Taxifahrt durch das erwachende Tel Aviv. Deutsche Botschaft, ich habe meinen Pass verloren, 19. Stock, Blick über die Stadt, dahinter, immer, Meer. 8 Uhr, an der Kaserne vorbei, es wimmelt von jungen Männern und Frauen in Uniformen, viele bewaffnet, inzwischen hat man sich daran gewöhnt, ab in den Regio (und zwar derselbe Bautyp, der einen auch von Düsseldorf nach Oberhausen bringt); wieder am Flughafen, nach den langen Kontrollen und Schlangen steht man plötzlich wieder zwischen tempelreifen Säulen an einem bunt beleuchteten, fröhlich vor sich hinplätschernden Brunnen. Eigentlich alles ganz friedlich. Von Thea Hof