Stadt als Kulisse No. 1: Venedig

Venzia

Sommer, warmer Abend, alle Fenster offen; ich höre den Sing-Sang der Nachbarn, eine Art Vogelgezwitscher. Sie sitzen auf ihren Plastikstühlen vor der Tür, wie hier üblich. Ich mag es, sie zwitschern zu hören, venezianischer Dialekt, der einen sofort in ein Goldoni-Stück versetzt. So spricht auch meine Schwester, meine Familie, ich habe es nie richtig gelernt. Dabei ist es ein Jammer: mache ich den Mund auf, merkt jeder, dass ich nicht wirklich dazu gehöre; ich klinge wie meine eigene Angst vor Abweisung.
Davor, ein Paar Meter Steinplatten und dann Wasser: Die Ufer als Grenze akzeptieren. Bis hier geht es, so einfach ist es.

Am Fenster, im ersten Stock, ist mein Platz. Als Kind schaute ich aus einem (anderen) Fenster im ersten Stock auf die winterliche Lagune, die dalag wie ein Bluterguss, am Horizont ein schwarz-grünes etwas: Die restliche Welt, da geht es weiter. Auf einer Insel geht es immer nur bis zum Ufer.

Venedig sei eine natürliche Bühne, höre ich oft. Wahrscheinlich weil die ganze Weltbewolkerung eine Idee von dieser Stadt hat, auch ohne je dagewesen zu sein – das impliziert ein ganz-genau-schauen, mindestens auf die eigene Vorstellung davon: und genau das macht man auch im Theater, ganz-genau-hinschauen.

Aber wo ist das Publikum, wenn ich meinen Posten am Fenster verlasse? Eine Bühne ist doch dazu da, die Blicke des Publikums zu fokussieren – auf die Schauspieler. Und wer ist auf der Bühne? Meine Erfahrung: Wenn Du von einer engen Gasse auf einen Campiello kommst, ist klar, du bist jetzt auf die Bühne getreten. Und der Markusplatz ist ganz offensichtlich die Hauptbühne, so schnell kannst du dich gar nicht verstecken, hinter den Säulen.

Da schaust du kurz, wer dich umgibt und was die anderen Akteure machen (meistens im Weg rumstehen und Fotos), und dann, wie in jeder anderen Stadt, gehen die Eingeborenen wieder ihrer Wege: Ab in die nächste Gasse. Abgang.

Venedig verlangt viel von ihren Einwohnern: Deswegen werden wir auch immer weniger. Besonders im Winter, nachts, wenn sonst keiner zu sehen oder hören ist (das Absatzgeklacker der italienischen Schuhe biegt oft schneller um die Ecke als die Absatzträger) und ich an meinen eigenen Schritten erschrecke. Wenn der Nebel versucht mich umzubringen, mir die Atmung abwürgt – so dass ich mit chemischen Waffen, freundlicherweise uns Asthamatikern von der Pharmaindustrie zu Verfügung gestellt, meine Lungen zwinge, sich doch nicht derart überrumpeln zu lassen.
Komm, liebe Lunge, wir spielen hier nur, der unheimliche Engel der Feuchtigkeit greift nach uns, will uns etwas angegriffen haben in dieser nächtlichen Vorstellung – sei’s drum, er ist der Regisseur heute, der Lump, der Teufel.
Chemie einatmen. Teufelnebels Abgang, Szenewechsel, wieder mal gerettet.

Venedig ist für mich eine Zumutung. Wir haben eine ambivalente Beziehung: Ich verrate sie oft, flüchte weit weg; dann fühle ich mich schuldig, komme wieder, um die Sache zu klären, was irgendwie nie klappen will, flüchte wieder.

Bin ich da, fühle ich mich von jeder schiefen Ecke und jedem gotische Fenster, die zu mir herabschauen ertappt – sie waren schon da, bevor ich geboren wurde und werden noch da sein, wenn ich bereits lange tot sein werde – eine in Stein gebaute Kränkung, diese wunderschöne Stadt, gebaut von Egozentrikern, die Jahrhunderte, fast ein Jahrtausend später immernoch an ihre Wichtigkeit erinnern.

Das Tagsüber-Venedig ist erklärte Besatzungszone der Japaner-und-andere Touristen geworden, und als solche weniger eine Bühne als eine Kulisse oder Fototapete. Hintergrund für Familienfotos, nicht Hauptfokus der Bilder. Gewaltige Gruppen, schwer bewaffnet mit riesigen Fotoapparaten, marschieren durch und halten die Stellung.

Wir wenige Eingeborenen bevorzugen also die Nacht, um auf unserer Bühne die Übriggebliebenen zu spielen, uns selbst zuschauend, zwischen den abplatzenden Kulissen; auch die Strassenbeleuchtung macht mit und spielt ihre Lichtspiele auf dem Wasser. Eine Bühne-Stadt ist eben dazu da, nur das zu zeigen, was gesehen werden soll.

von Ludovica Scarpa