Postmoderne Bühne, postmoderner Raum und das Spiel mit der Wirklichkeit (Teil 2)

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Vom Auszug in die Wirklichkeit

 

Es gibt auch eine andere Dimension des postmodernen Ästhetizismus, in der sich das „klassische“ Bühnenbild in und gegen ganz neue architektonische Bedingungen behaupten muss oder wahlweise, als Relikt einer fast überholten oder zu überholenden Inszenierungspraxis, ganz aus der Aufführung verschwindet.

Dieser schon anfangs genannte Auszug aus dem Theater(haus), das Bespielen vermeintlich weniger repräsentativer Orte, wie Fabrikhallen, Wohnungen, Keller, Kaufhäuser oder öffentlicher Plätze, zieht auch eine andere Herangehensweise an die Gestaltung eines Bühnenbildes nach sich. In der Architektur des Theater ist das Bühnenbild als gestalterische Möglichkeit fest integriert. Die technischen Mittel (Seilzüge, Drehbühne, Unterboden etc.), die Ausrichtung der Bühne zum Publikum und die kultur-historisch bedingte Zweckmäßigkeit bzw. die Annahme dessen, erlauben dem/der BühnenbildnerIn mit der Bühne einen „leeren Raum“ (nicht den von Peter Brook!), einen fast „neutralen“ Ort im Sinne des Stückes und der Aufführung zu verändern. Die Neutralität besteht darin zu sagen: Das ist eine Bühne und für nichts anderes als das Bühnenbild und die Aufführung geschaffen. Jede Theaterbühne unterscheidet sich voneinander, technisch, architektonisch, historisch. Herangehensweise und Konzeption müssen den (orts)spezifischen Bedingungen angepasst werden – trotzdem oder gerade aus dieser Charakteristika heraus gibt es Grundzüge und Strategien der Bühnenbildarbeit am Theater.

 

Wenn man diesen Ort der Zweckdienlichkeit nun eintauscht gegen einen anderen Ort, einen mit einer eigenen Geschichtlichkeit und der dementsprechenden architektonischen Haltung, so stellt sich das Bühnenbild bzw. die Gestaltung dessen immer ein Stück weit als „Fremdkörper“, als Zweckentfremdung in Verhältnis zu diesem Ort dar. Die Attraktivität und die Möglichkeiten eines solchen Konzepts liegen auf der Hand: die sinnliche und räumliche Erfahrung der nur bedingt oder gar nicht auflösbaren Gegensätze, die Schnittstellen einer vermeintlichen Realität oder Wirklichkeit – der postmoderne Erfahrungshorizont lässt sich hier in seiner vielfachen gestalterischen Potenz ausleben. Die Schwierigkeiten liegen aber gleichermaßen auf der Hand. Die meisten „Räume“ und Orte sind semiotisch aufgeladen, d.h. Im Sinne ihres (eigentlichen) Zwecks und in einer assoziativen Dimension zeichenhaft besetzt. Sagen wir der Ort ist eine Fleischerei (gewesen), dann wird er auch als solcher in die Rezeption mit einfließen. Blut, Knochen, Messer, Schmerz, Tod oder Nahrung, Handel und Beruf fliegen als nicht ganz so lose Begriffe durch den Raum. Ein Konzept, das sich diesem Raum annimmt bzw. aneignen will, macht das natürlich genau dieser ortsspezifischen Charakteristiken wegen und nicht wegen Alternativlosigkeit oder Platzmangel (es sei denn, es formuliert den Platzmangel, Gentrifikation, etc. gleich mit ein). Sagen wir die textliche Grundlage handelt nicht dezidiert von Fleischzubereitung, sondern ist Ibsens „Die Wildente“ oder etwas postmoderner: ein Text über informellen Zuchtschneckenhandel – dann steht in der Frage der Gestaltung des Bühnenbilds immer auch die Frage der Vereinbarkeit bzw. Unvereinbarkeit der „authentischen“ Atmosphäre (Brutalität und Alltag) des ursprünglichen Raums mit dem vom Stück gestellten, inhaltlichen und gestalterischen Anforderungen. Je nach dem wie das Konzept des Theaters mit den Gegensätzen umgeht – ob im Sinne der von Bernd Stegemann geforderten Dialektik1 oder im Sinne des postmodernen Credo der legitimen Existenz vielfacher Paradoxien und deren Spannungsverhältnis und Brüche untereinander – wird sich auch das Bühnenbild positionieren müssen. Dabei überwiegt sicherlich die Attraktivität diese Räume transformieren zu wollen, semiotisch neu zu besetzen bzw. zu verknüpfen und die Spannung dieser verschiedenen Bilder zueinander hervorzubringen.

 

Dirk Baecker umschreibt das mathematisch als „Operationen“ von „Besetzung und Austausch […], die sich an einem Ort vornehmen lassen. Die Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, dort Leere, also Besetzbarkeit, vorzusehen, wo keine Leere, sondern immer schon etwas ist“2. Dabei kann die Besetzung nie das Vorgefundene komplett ersetzen oder sich dessen erwehren (und will es ja auch in den seltensten Fällen), sondern führt zu einer produktiven (oder destruktiven, weil verwirrenden), dynamischen Vermengung der Zeichen, in dessen Kosmos Prozesse von Umdeutung, Neudefinition, Verschmelzung oder auch Widerspruch, Behauptung und Hervorhebung möglich sind, die für das Theater eine große Wichtigkeit haben.

 

                                        „Man operiert dort, wo man, nichts anderes vorfindet, als die Wirklichkeit                                                                                                    [des spezifischen Ortes], mit der Möglichkeit des Theaters.“3

Nun ist eine der Möglichkeiten des (postmodernen) Theaters dieser „Wirklichkeit“ konzeptuell dermaßen viel Gewicht einzuräumen, dass ein Bühnenbild unter Umständen gar nicht „gebraucht“ wird. Das ist sowohl in künstlerischer als auch ökonomischer Sicht tragisch für den/die BühnenbildnerIn, werden sie doch von (künstlerischen) Prozessen ausgeklammert, die durchaus fruchtbaren Einfluss auf die Theaterlandschaft haben. Und das zugunsten von „Authentizität“, d.h. sie (und nicht nur sie) werden verdrängt von der „Wirklichkeit“ bzw. der Ausrichtung postdramatischer Formate an dieser als ästhetische Maxime.

Wenn es Teil der Inszenierung ist, Wohnungen und Behausungen in „sozialen Brennpunkten“ von Städten zu besuchen, wie in X Wohnungen4 von Matthias Lilienthal, dann ist der Blick oder die Entdeckung des „Vorgefundenen“, der Einrichtung der Wohnung, ihrer Lage und der sozialen Schichtung ihrer BewohnerInnen, die eigentliche Grundaussage. Die Wohnung und ihre „authentische“ Inneneinrichtung, die Atmosphäre des vermeintlich Fremden (marginalisierter oder minoritärer Existenzen und ihres sozio-kulturellen Kosmos) sind das eigentliche Bühnenbild, das jegliche weiteren künstlerischen Interventionen im Sinne der klassischen Bühnenbildarbeit überflüssig machen. Die im Rahmen von X Wohnungen vorgenommenen Eingriffe durch Installationen und Performances spielen dabei eher mit den Mitteln der sozialen Plastik (Beuys) aus der bildenden Kunst, als mit den gängigen Formen des Theaters. Das Theater sorgt hier in gewisser Weise für den organisatorischen Rahmen der Aufführung, sowie für die Behauptung einer „Aufführung“ an sich, was durchaus wichtig für die Rezeption der „vorgefundenen“ Wirklichkeit, als eine von der eigenen Wirklichkeit entfernten, ist.

 Spaces Brighton

Reclaim the streets, reclaim reality

National wie international arbeiten Theaterkollektive am und im öffentlichen Raum und nutzen diesen als Bühne ihrer Aufführungen und Interventionen. Stadtraum und Stadtpolitik unterliegen einer verstärkten Verwertungslogik – Ausdruck dessen sind die Umwandlung ganzer Viertel in reine Orte des Konsums und der dementsprechenden Konstituierung des Individuums in dieser Umgebung, sowie der Ausgrenzung und Verdrängung derjenigen, deren soziale Situierung oder lebensweltliche Einstellung nicht in das Konzept passen.

Das sind die Realitäten, die Gruppen wie Rimini Protokoll interessieren und die sie mithilfe des Sichtbarmachens von Schicksalen und Biografien thematisieren, welche zwischen den Auswirkungen von Globalisierung und Alltag auf ihr Leben oszillieren. Den unmittelbaren Zugang dazu, sowohl räumlich (site-specific, da sie nicht als Teil eines Ensembles an eine feste Bühne gebunden sind, sondern sich ihre Bühnen selber suchen können), wie auch lebensweltlich (mit ihren „Experten des Alltags“), empfindet man zuweilen als wesentlich greifbarer, als viele artifizielle Versuche des klassischen Theaters Konfliktwelten zu vergegenwärtigen. HartzIV und Wohnungsnot, Altersarmut und Asylpolitik erscheinen auch dem bildungsbürgerlichen Theaterpublikum als zunehmend konkretere Begriffsfelder, als es vielleicht der Despotismus eines König Lear und die Kriege um historische Ländereien täten (was nicht heißen soll, dass dem deutschen Bürgertum ihr Obrigkeitssinn und ihr Nationalismus abhanden gekommen wäre).

Das ist der eigentliche und ganz wesentliche Konflikt zwischen einem modernen (aber mit postmodernen Mitteln verbauten, ergo postmodernen) Theater im Theater(haus) und den postmodernen Formaten freier Theatergruppen oder TheaterkünstlerInnen: der Kampf um die Wirklichkeit, also das Ringen um die gültige Ausdeutung dessen, was wirklich, was „authentisch“ ist. Für Bernd Stegemann ist das die „Unterscheidung zwischen der Welt als dem ontologisch Vorhandenen und der Realität als dem, was Menschen daraus gemacht haben“5. Soziales Leben, Kommunikation und Vergesellschaftung schaffen eine Realität, d.h. die jeweilige Wirklichkeit dieser Gesellschaft. Innerhalb dieses (Kommunikations)Systems kann sie (die Wirklichkeit) sich im Sinne eines autopoietischen Prozesses6 selbst bestätigen und reproduzieren und mithilfe einer dialektischen Denkweise anhand der ihr zugrundeliegenden Verhältnisse kritisch überprüft werden7. In dieser engen Bezüglichkeit von Welt und Realität kann sich letztere formulieren und auch reformulieren. In der postmodernen Realität geht es dabei weniger um die kritische Überprüfung anhand weltlicher Maßstäbe, als um eine (auch kritische) Ausdifferenzierung ihrer selbst. Sie sieht den Realitätsgewinn nicht in Bezug zu einer großen Welt (bzw. dessen Begrifflichkeit) – sie klammert diese Welt sogar aus oder negiert sie wegen ihrer Komplexität, also Nicht-Ganz-Erklärbarkeit. Realität liegt somit nur im Auffinden einzelner (Realitäts)Komplexe, dem Mikroereignis und den darin wohnenden Widersprüchen bzw. der erneuten Ausdifferenzierung dessen.

Even if you win the rat race, you’re still a rat

In der postmodernen Denkweise hat die Münze nicht nur zwei Seiten, sie hat auch Struktur, Materialität, Zeichen und je nach Betrachtungswinkel unterschiedliche Formen – ein enormer Distinktionsgewinn, nur vergisst dieses Denken bei allerlei Formenvielfalt gerne mal, dass es sich nach wie vor um ein Geldstück handelt und dessen Rolle in einem monetären Verwertungssystem. Davon profitiert am Ende der Kapitalismus bzw. dessen Profiteure. Die Vielfalt kritischer Betrachtungsmöglichkeiten lässt sich so messen an der Vielfalt der Warenproduktion, der Lebensstile, der individuellen Schicksale, der Freiheiten. Begreift man diese Freiheiten lediglich in einem naturhaften Verständnis des Kapitalismus, als derjenige, der diese geschaffen hat, ergo als individuell gestaltbare bzw. zu erarbeitende, so ordnet sich jede Formulierung von Freiheit immer dem System unter. Jeder Akt der Subversion, jede Kritik bleiben für den Kapitalismus verdaulich und sogar verwertbar. „Echte“ Menschen, „authentische“ Schicksale – was mit der Suche nach Lebens- und Erfahrungswelten beginnt, die wahlweise marginalisiert oder irgendwie nonkonformistisch, in allen Widersprüchen der Gesellschaft „wirklich“ verhaftet scheinen, um ihren Schicksalen und Anliegen Stimme und Gehör zu verschaffen, wird schlussendlich immer in eine kapitalistische Verwertungspraxis einbezogen. „Authentisch“ ist gefragt und diese Nachfrage begründet sich nicht nur auf ein kulturelles oder ästhetisches Bedürfnis des Publikums bzw. der Menschen, sondern auch auf ganz konkrete Interessen des Marktes. „Authentisch“ ist längst eine Marke und wird als solche inszeniert. Die Bildmaschine des Fernsehens und des Internets sind hier sicherlich die Schlachtschiffe der semiotischen Neubesetzung, wenn sie mit ihren (scripted) reality shows und reality-Serien, in denen LaiendarstellerInnen, verfolgt von einer amateurhaft anmutenden Kameraführung, alltägliche Banalitäten aufführen um eine Art pseudo-dokumentarische Nähe zu erzeugen. Es gibt unzählige solcher und ähnlicher Formate in der Mattscheibe und im Netz und man täte den meisten Theaterformaten und Theatergruppen unrecht, sie damit zu vergleichen. Tatsächlich ist es ja eine der Qualitäten des Theaters bzw. der Aufführung, die in ihrer Unmittelbarkeit, der leiblichen Präsenz, den voyeuristischen Blick (wie das Fernsehen ihn hegt und pflegt) auf den Rezipienten zurückwirft und ihn zum Thema machen kann. Auch sind die Gründe für die Fokussierung der Theaterarbeit auf die „Realität“ und das „Authentische“ wesentlich nachvollziehbarer.

Da sind zum Einen, der schon erwähnte, inhaltliche Zugriff theatraler Mittel auf ein erweitertes (d.h. über das Drama hinaus, mitunter aktuelleres) Themenfeld und zum Anderen der ästhetische Zugriff, der gerne mit den tradierten, erprobten Theaterformen bricht und gerade in diesen Brüchen und der besonderen sinnlichen Wahrnehmung dessen, den Moment des „Authentischen“ verortet.

Diese traditionellen, bürgerlichen Theaterformen – das Gespann von Regie, Drama und Schauspiel – bilden ihre Wirklichkeit aus dem spielerischen Vermögen der Narration und der schauspielerischen Leistung darin. Das mimetische Vermögen der Darstellung erzeugt „Glaubwürdigkeit“, die wiederum führt zu einem gewissen Maß an Identifikation mit dem Aufgeführten durch das Publikum8. Eine temporäre und fragile, weil künstlich bzw. künstlerisch erzeugte Wirklichkeit entsteht, die ebenso Raum lässt für das „doppelte Bewusstsein“9, das sowohl Publikum als auch SchauspielerInnen vom „Spiel“ mit der Wirklichkeit haben. Die Rezeption dieses Bewusstseins und die daraus mögliche Bewusstseinsbildung bilden das kritische Vermögen des Theaters. „Echte“ soziale Kommunikation kann hier wie in einem Labor künstlich hergestellt, verändert und immer wieder beobachtet werden. Die Fähigkeit zur Utopie, die sich aus diesem Experimentieren und Beobachten, sowie aus der temporären, räumlichen und spielerischen Exklusivität des Theaters ergibt, ist besonders für das Verständnis von einem politischen Theater von großer Wichtigkeit.

von Rob Kraatz

 

1 Bernd Stegemann: Kritik des Theaters, Berlin 2013, S. 124.

2 Birk Baecker: Wozu Theater?, Berlin 2013, S. 48, unter Berufung auf Gotthard Günthers Kenogrammatik.

3 Ebd., S. 47.

4 X Wohnungen ist ein von Matthias Lilienthal (zu der Zeit noch Intendant des HAU Berlin) erdachtes Theaterformat, welches erstmalig 2002 in Duisburg und ab 2004 deutschlandweit und weltweit in verschiedenen Städten adaptiert wurde (später auch unter den Namen X Apartments oder X Homes). Das Publikum wird dabei in kleinen Gruppen durch ausgewählte Wohnungen geführt und erhält Einblicke in das Leben ihrer BewohnerInnen. Wahlweise werden auch Räume durch verschiedene KünstlerInnen „kuratiert“ oder verändert, inhaltlich soll es aber immer um das Leben vor Ort gehen.

5 Bernd Stegemann: Kritik des Theaters, Berlin 2013, S. 153f.

6 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt/Main 1988, S. 206.

7 Bernd Stegemann: Kritik des Theaters, Berlin 2013, S. 124.

8 Vgl. Bernd Stegemann: Kritik des Theaters, Berlin 2013, S. 44.

9 Ebd.