Postmoderne Bühne, postmoderner Raum und das Spiel mit der Wirklichkeit (Teil 1)
„Der Raum markiert nicht nur die Umstände performativer Akte, er ist nicht nur Erfüllungsgehilfe, sondern er ist selbst als Ungenügender noch Akteur“1.
Das postmoderne Verständnis von Raum im Theater, also auch der teilweise Auszug des Theaters aus seinen angestammten, repräsentativen Architekturen, bewirkte in der Arbeit des/der BühnenbildnerIn einen bedingten Transformationsprozess. Das Bühnenbild versteht sich zwar in seiner (schulischen) Ausbildung, der konkreten Umsetzung und auch der Rezeption als künstlerische Gattung – es kann aber nicht oder nur bedingt auf eine werkliche Eigenständigkeit oder Unabhängigkeit, wie beispielsweise das „Bild“ in der Malerei, zurückgreifen. Das Entstehen eines Bühnenbildes und seine (ephemere) Präsenz sind eng an die Inszenierungspraxis, die zugrundeliegenden Texte und die Regieposition gebunden und in ihrer Aufführung schließlich an der in ihr stattfindenden Handlung. Der spezifische Werkscharakter des Bühnenbildes ist also kaum ohne die Präsenz/Performance des/der DarstellerIn und die Aufführung selber zu denken. Das hat sich auch in der Postmoderne und dem Postdramatischen Theater nicht grundlegend geändert – sehr wohl aber haben sich ästhetische Ansätze und der Wert des Bühnenbildes in der postmodernen Rezeption neu formuliert.
Es lässt sich zum Einen von einer Aufwertung des (Kunst)Werkscharakters im Zuge eines durch Massenmedien generierten „Iconic Turn“ sprechen, welcher in den Achtzigern zu einer Neubewertung und verstärkten Bezugnahme des Einflusses (medieller) Bilderwelten auf Alltagskultur und Wissenschaft führte2. Im Bühnenbild steckt die Empfänglichkeit für das Zitieren, Verwenden und Verfremden dieser Bilderwelten zum Schaffen einer oder verschiedener sozialer und räumlicher Wirklichkeiten. Im postmodernen Verständnis bedient sich das Bühnenbild bei Bedarf der kompletten stilistischen und technischen Theatermittel, wie Licht, Video(projektionen) oder dem Sichtbarmachen von Umbauphasen und Veränderungen während der Inszenierung. Diese Mittel sind im Einzelnen nicht als dezidiert postmodern zu bezeichnen, haben sie doch ihre Ursprünge und besondere Betonung schon in den Avantgarden (Appia, Craig) oder Theatermachern der Neuzeit (Piscator) gefunden. Die Verwendung dieser Mittel als Pool von Möglichkeiten um ein sinnlich-wahrnehmbares Erleben des Raumes, der Materialität und Prozessualität zu fördern, macht sie zu einem gängigen (fast schon wieder klassischen) Ausdruck postmoderner Theaterästhetiken. Besonders der Einsatz von Videoprojektionen scheint vielen heute der sinnbildlich postmoderne Akzent vieler Bühnenbilder zu sein.
„Das Eindringen der Zweidimensionalität des Videos in die Dreidimensionalität des Bühnenraumes, verändert die räumlichen Verhältnisse fundamental. Ein Oszillieren zwischen den Dimensionen wird zur ästhetischen Möglichkeit für die Bühne.“3
Die ästhetische Möglichkeit besteht darin, Referenzen herzustellen, die außerhalb der textlichen Grundlage des Stücks liegen, zu kommentieren, zu illustrieren, umzuwerten oder sich schlichtweg der Referenzialität durch einen visuellen Eklektizismus zu entziehen. Der/die BühnenbildnerIn, im dogmatischen Verständnis gerne als Dienstleister am Theater verstanden (und heute so auch steuerlich klassifiziert), durfte auch gerne bildende/r KünstlerIn sein.
Robert Wilson ist eines dieser Beispiele von Künstler, Autor, Regisseur und eben Bühnenbildner in Personalunion. Seine mit surrealistischen Elementen versetzten Bühnenstücke (und Bühnenbilder) legen die sinnliche Ebene von Bild und Musik über das Inhaltliche, den Text und das Semiotische und entziehen sich somit oftmals einer konkreten Deutbarkeit. Er steht damit in der Tradition der von Appia, Craig oder Reinhardt schon um die letzte Jahrhundertwende entworfenen Theater- und Bühnenbildtheorien.
Ebenfalls von einer starken visuellen Kraft gekennzeichnet sind Christoph Schlingensiefs „Bildermaschinen“ d.h. seine Inszenierungen und „seine“ Bühnenbilder4. Zwar legt Schlingensief sehr wohl wert auf das Semiotische – die vielfache Aufladung und Überladung an Zeichenhaftem, Referenzhaftem und ikonografischen Bildreizen entziehen sich aber gerne der offensichtlichen Deutung. In seinen Inszenierungen geht es um die Verschmelzung von scheinbar Gegensätzlichem, von afrikanischen oder tribalistischen Riten und Mythen, globalen Kriegsszenarien, deutschem Faschismus und Konservatismus oder seiner eigenen Krankheit, verknüpft mit den technischen Mitteln der Drehbühne, Video und Film, Schauspiel und performativen Akten (wie seinem eigenen Auftritt in „Mea Culpa“ auf der Bühne des Burgtheaters).
„Die Kontrollmechanismen verlieren und das zugleich als eine Inszenierung begreifen sich in einem fließenden Zustand befinden, das ist der Kern meines Theaters.“5
Schlingensief gilt mehr als Aktionskünstler denn reiner „Theatermacher“. Er hat seine Erfahrungen aus Film, Performance und Politik (Chance 2000, 1998), seine begehbaren Rauminstallationen (Animatograph)6 und seine Radikalität immer wieder mit ins Theater genommen.
Christoph Schlingensief wurde 2011 (postum) mit dem Hein-Heckroth-Bühnenbildpreis, einem der wichtigsten deutschen Bühnenbildpreise, ausgezeichnet (nominiert vom vormaligen Preisträger Robert Wilson).
2013 kriegte diesen Preis Anna Viebrock, die vor allem für ihre Zusammenarbeit mit dem Theater- und Opernregisseur Christoph Marthaler bekannt ist. Ihre Bühnenbilder, oft auf recherchierten Vorbildern basierend, zeichnen sich durch einen „Pseudo-Realismus“ aus. Sie entwirft eindrucksvolle und referenzgeladene Räume, die sowohl durch „Nutzungserscheinungen“ bzw. Patina als auch durch die gestalterischen, architektonischen Elemente eine starke Materialität und Bezüglichkeit zur Ästhetik der (deutschen) fünfziger und sechziger Jahre herstellt. Durch die Verschachtelung von Innenräumen mit Elementen von Außenräumen, Türen und Treppen, die ins nichts führen, bedient sie sich surrealistischer Stilmittel.
„Ich operiere an und mit den Dingen. […] dann geraten die Bedingungen des Alltäglichen außer Kontrolle und nehmen einen gegenteiligen Charakter an.“7
Anna Viebrock wird trotz ihrer Affinität zum Surrealismus und ihrer scheinbaren Absage an den Aktualitätsfetisch vieler postmoderner BühnenbildnerInnen, durchaus der Postmoderne zugerechnet.
Inzwischen macht sie auch eigene Regiearbeiten, genau wie Herbert Fritsch, der wiederum gerne als „Medienkünstler“ angeführt wird.
Er wurde 2012 für Die Spanische Fliege und 2013 für Murmel Murmel vom Theater der Zeit Verlag zum Bühnenbildner des Jahres gekürt. Herbert Fritsch, der dem Theater und besonders der Volksbühne Berlin über lange Zeit als Schauspieler verbunden war, macht sowohl Regie als auch die Bühnenbilder in seinen Inszenierungen und beschäftigt sich darüber hinaus mit Fotografie und Experimentalfilm. Sein Bühnenbild für Murmel Murmel mutet fast klassisch an: bewegliche Theaterwände, hintereinander versetzt, die sich wahlweise zueinander oder voneinander weg bewegen, den Raum verkleinern zu einem tunnelgleichen Ausschnitt oder vergrößern und den kompletten Bühnenraum frei geben. Eine scheinbar simple technische Konstruktion mit hohem gestalterischen Vermögen. Die einfache, flächige Farbigkeit der Prospekte erinnert bisweilen an die alten Testbilder des Fernsehens oder etwas komplexer an das Formenspiel des Kaleidoskops (was wahrscheinlich einige Kritiker zu Verweisen auf LSD-Rauschzustände hinreißen ließ8). Die Bühnengestaltung ist omnipräsent und der Handlung ebenbürtig. Parallel zum klamaukartigen Gestus der SchauspielerInnen, die fortlaufend auf vielfältigste Weise das Wort „Murmel“ rezitieren9 und in wechselnder Gruppenbildung und -auflösung umher springen, formieren sich die Wände ständig neu. An der Inszenierung ist alles Oberfläche, daraus macht sie keinen Hehl. Man merkt dem Bühnenbild die gestalterische Wichtigkeit und sein aktives Eingreifen in die Bewegungsmuster der DarstellerInnen an, wie das nur jemand konzipieren kann, der auch die Regieposition innehat. Abgesehen davon, dass das Stück unheimlich unterhaltsam ist, ist es auch gleichermaßen postdramatisch und feiert trotzdem das mimetische (oder zumindest das gestische) Repertoire der SchauspielerInnen. Das Theater weist hier vielfach auf seinen eigenen Gestaltungsspielraum hin, ist also selbstreferenziell. In einer Kritik in der FAZ heißt es: „Die Aufführung habe nichts zu sagen, das aber mit großer Virtuosität.“10. Trotzdem würde ich den stakkato-artigen Slapstick-Nummern, den chorischen Gruppenbildern und dem Zerfallen dieser in aufmerksamkeitssüchtige Soloauftritte, so etwas wie eine Referenz nach Außen attestieren. Das Stück spiegelt gleichermaßen die Oberfläche des Theaters, feiert seinen gestalterischen Spielraum und überzeichnet in gewisser Weise (grotesk bis clownesk) den schauspielerischen Habitus im (Theater)Apparat. Das Oszillieren zwischen egoistischer Gestaltungssucht und dem Bedarf nach Gemeinschaft lässt sich aber auch als Spiel unserer Gesellschaft des Spektakels11 außerhalb des Theaters begreifen. Freilich, Konsequenzen oder eine Utopie fordert die Inszenierung in all seiner postdramatischen Herrlichkeit nicht ein – wohl aber das Gefühl Theater in einem äußerst vitalen Moment erlebt zu haben.
Die gewachsene Popularität von Bühnenbild in der Kunstrezeption verdankt es nicht zuletzt seinen Affären mit den postmodernen bildenden Künsten. BühnenbildnerInnen wie Jan Pappelbaum, Bert Neumann, Kathrin Brack, Anna Viebrock, rosalie oder Muriel Gerstner wurden mit eigenen Ausstellungen oder Buchveröffentlichen (Monographien) bedacht. Letztere, also die Frauen, hatten dabei wesentlich ausdauernder um Anerkennung zu kämpfen. Weibliche Regie- und Bühnenbildpositionen und die Wahrnehmung dieser verstärkten sich erst ab den Siebzigern und man kann auch heute noch nicht von einem ausgeglichenen, geschweige denn respektvollen Verhältnis sprechen12. Nichtsdestotrotz schaffte das Bühnenbild den Wandel von einer „Gebrauchskunst“ hin zu einem eher künstlerischen „Gebrauch“ mit Anknüpfungspunkten auch für andere Künste bzw. KünstlerInnen.
von Rob Kraatz
1 Ludwig Schwarte: Gleichheit und Theaterarchitektur, in: Politik des Raumes, E. Fischer-Lichte und Benjamin Wihstutz (Hg.), München 2010, S. 44.
2 Vgl. Bazon Brock u. Hubert Burda: Bildwissenschaft ist ursprünglicher als Kunstwisenschaft, in: In Medias Res, Hubert Burda (Hg.), München 2010, S. 118.
3 Ulrike Hartung: Licht Spiel Theater, in: Die Deutsche Bühne, 05/2012.
4 Tatsächlich sind es bei den großen Produktionen wie Parsifal (2007) in Bayreuth Daniel Angermayr und Thomas George oder 2009 am Burgtheater Wien bei Mea Culpa Janina Audick, die sich für das Bühnenbild zuständig zeigen. Ihnen gemein ist aber eine starke Orientierung ihrer Konzeptionen am Schlingensief’schen Bilderkosmos und der favorisierten Drehbühne.
5 Zitat aus Das Schlingensief Theater auf Schlingensief.com.
6 Der Animatograph ist eine begehbare Rauminstallation auf einer Drehbühne. Der Einsatz von Videoprojektionen aber auch die verwendeten Materialien und die ikonografischen Fragmente erzeugen eine starke Materialität. Der Animatograph konnte im Rahmen von Performances oder Film als Bühne dienen oder als eigenständiges Werk vom Publikum „begangen“ werden. Die Ästhetik übte starken Einfluss auf die Bühnenbildkonzeptionen seiner Stücke aus.
7 Anna Viebrock, Das Vorgefundene erfinden, Berlin 2011, S. 175.
8 Peter Laudenbach im tip Berlin; Matthias Weigel auf nachtkritik.de, 28.03.2012.
9 Der zugrunde liegende Text von dem schweizer Künstler Dieter Roth besteht einzig und allein aus dem Wort „Murmel“.
10 Irene Bazinger: Kritik in der FAZ, 30.03.2012.
11 Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S. 14f.
12 Vgl. Bettina Behr: Bühnenbildnerinnen, Bielefeld 2013, S. 46.
Auch interessant: das Goethe-Institut listet auf ihrer Web-Präsenz als namhafte VertreterInnen unter den „30 Bühnenbildner im deutschsprachigen Raum“ immerhin fünfzehn Frauen, unter den namhaften „50 Theaterregisseure des deutschsprachigen Theater“ sind gerade mal zwölf weiblich; www.goethe.de/kue/the/deindex.htm.