Stadt als Kulisse No. 4: Neapel. Nessuno come noi.

‚Pride and Prejudice in Napoli‘ oder ein Stadtspaziergang entlang poröser Oberflächen.

Der Abflug bietet wieder das vertraute Bild. Es ist später Abend, fast Nacht und unter mir streckt sich noch mal die Metropolregion Neapels wie eine buckelige Chimäre. Das Fell aus Lichtern verrät kaum wo die Mitte oder das Zentrum der Stadt sein sollen. Sporadische Verdichtungen, Lücken, Leerstellen, dann wieder lange Lichterketten, die auf die prachtvolleren oder verkehrsintensiveren der Straßen hindeuten. Dieser Pelz legt sich über eine vulkanische Landschaft, was man so wohl auch als Sinnbild verstehen kann. Unter der Oberfläche brodelt es beständig. Die Lichter stehen vielleicht für die großen und kleinen Verbrechen, die sich gerade abspielen, für brennende Müllhaufen, soziale Mißstände oder einfach als Punkt für jede gute Pizzeria in der Stadt. Aber von hier oben kommt man immer schnell wieder ins Romantisieren.

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Auch nach meinem dritten Mal in der Stadt, reise ich wieder mit einem Jutebeutel von alten und neuen Klischees und Eindrücken ab. „Facettenreich“ ist wohl einer dieser konsumerablen Bezeichnungen, unter den man probiert die Stadt touristisch zu verdauen. Vielschichtig ist sie tatsächlich. Nicht jedem gefällt sie, so einige hassen sie, andere lieben sie. Die Eindrücke sind mit unter ähnlich, die Bewertung dessen fällt aber oft unterschiedlich aus. „Moloch“, „kriminelle Hochburg“, „kultureller Hotspot“, Morbidität und Appetit, viel Geschichte, viel Gegenwart, ein bisschen Zukunft vielleicht. Von allem findet man etwas in dieser Stadt – wenn man sich darauf einlässt.

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Meine Reise durch die Stadt beginnt fast schon rituell: kein Frühstück, ich spare mir das Ticket und fahre mit der Cumana ins Zentrum. Die Station Montesanto liegt als Kopfbahnhof auf einem Hügel, von dem aus man bequem ein paar Meter bergab in die Viertel des Zentrums starten kann. Im Bahnhof rollen beständig die Züge der Cumana und Circumflegrea ein, die alternden Körper übersät mit einer reichen Geschichte an lokalem und internationalen Graffiti. Freie Stellen gibt es nicht, lediglich die Fenster werden noch geputzt. Kurz unter der Station ziehen sich die Straßenmärkte durch die Gassen des Quartieri Spagnoli. Allerlei Sinnvolles und Sinnloses lässt sich hier erstehen, auch ein bescheidenes Frühstück, eine fettige Pizza Bianca und wenn der Magen es noch erlaubt, ein starker Cappucino. Ich bleibe an einem liebevoll gestalteten Schaukasten vor einer Macelleria stehen. Im Kasten selbst ist die Figur eines Fleischers in seinem beruflichen Habitat ausgestellt, irgend ein eigener Maßstab. Vorsichtig schaue ich an der Tür vorbei in den Laden um das Modell mit seiner carnivoren Realität abzugleichen. Der Fleischer oder derjenige, der den Laden gerade führt, bemerkt mein scheues Interesse und kommt auf mich zu. Wie der prototypische Fleischer, mit Schnauzbart, Glatze und stämmiger Figur – der mir so durchaus schon ein paar mal in Italien begegnet ist – wirkt er nicht. Auch der Figur im Schaukasten gleicht er nicht. Freundlich und sichtlich stolz, erklärt er mir, dass seine Mutter den Kasten und alle Details darin selbst gebaut hat. Ich probiere ihm bzw. seiner Mutter aufrichtig Respekt zu zollen, indem ich meine Bewunderung mit meiner Profession zu untermauern versuche, was von ihm immer noch freundlich aber mit vielen kleinen Fragezeichen im Gesicht quittiert wird. Aber was weiß ich schon vom Fleischern – und mein grobschlächtiges Italienisch ist wahrscheinlich auch nicht gerade von Nutzen um die Raffinessen des Theater-Modellbaus spannend aufzubereiten. Das Talent seiner Mutter kommt nicht von irgendwoher. Neapel hat eine lange Tradition im Krippenbau. Jedes Jahr werden hier große und detailreiche Krippen(-landschaften) für Kirchen und die Gräber wohlhabender Familien gebaut.

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Ich bewege mich weiter unterhalb des Centro Storico, parallel zum touristisch bzw. kommerziell ausstaffierten Corso Umberto I in Richtung Hauptbahnhof, durch kleine Gassen und Straßen und vorbei an Hinterhöfen, die ebenso einer Heinrich Zille-Zeichnung entsprungen scheinen, wie mein Klischee vom italienischen Fleischer. Ich passiere kleine Ladengeschäfte mit Auslagen, die seit den Sechzigern scheinbar nicht mehr bewegt wurden – ein Schelm, wer hier nicht an Wien denken muss.

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Und doch ist Neapel ganz anders, ganz eigen. „Nessuno è come noi“ – „Keiner ist wie Wir“, wie es eine Parole der Neapolitanischen Ultras in vielen Tags in den Straßen der Stadt betitelt. Allein die Typographie, mit der die Fussballslogans die Wände der Stadt zieren, ist mir bisher nirgends sonst begegnet. Aber auch politische Parolen (überwiegend die linker Gruppen, ein paar von den Casa Pound-Faschisten) und Schablonengraffiti, die bestimmte Stadtteile als jeweilige Mafiagebiete ausweisen, finden sich überall. Sie fungieren wie visuelle Pole, zwischen denen man einige Besonderheiten der Stadt für sich entdecken kann. (Das funktioniert sicherlich nicht im modernen touristischen Narrativ, bei dem man lobotomisiert und selfie-stick schwingend in Bestzeiten Touri-To-Do-Listen abhakt um sich im WWWeltmeer eine Feedback-Schleife zu basteln – but hey, who am I talking to?!).

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Ich folge den Chiffren der „Mastiffs“ und anderer Tifosi zurück nach Fuorigrotta und gehe mit einem Freund ins Stadio San Paolo zum Fussballspiel zwischen dem SSC Neapel und AC Florenz. Das Stadion (immerhin das drittgrößte in Italien) und sein Umfeld versprühen den Charme avantgardistischer sechziger Jahre Architektur, die seitdem aber auch niemand mehr zu würdigen wusste oder wollte. Die Bepflanzung ist karg, der pastellfarbene Putz flieht von den Wänden, die abstrakten Skulpturen rosten wo sie können und der vorgelagerte Park dient vor allem den Obdachlosen als nächtliches Refugium. Trotzdem scheint das umliegende Viertel so etwas Gentrifikation zu erleben. Vor ein paar Jahren noch waren viele der (Geschäfts-)Gebäude auf der nahen Via J.F.Kennedy verlassen, im Bau oder heruntergekommen. Zwischen ihnen türmte sich der Müll und ich bewunderte die Menge an Katzenkadavern, so als wollte sich die Straße auf ihre eigene handfeste Art am Internet rächen. Heute scheinen die meisten Geschäftsbauten bezogen, der Müll ist überschaubar, es gibt mehr Bars und mehr AirBnb-Wohnungen (in einer wohnen wir; die Jahre zuvor reichte noch ein gemütliches Albergo in der Nähe, dass den unprätentiösen Charme einer Gastarbeiter-Wohnung besaß). Die nahen Stationen Campi Flegrei und Mostra sind in der Nacht immer noch ungemütlich. Tagsüber wird man hier an neapolitanischem Leben aber nicht viel missen.

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Wir begeben uns ins Stadion, in die Curva A. Vorher haben wir doch etwas sehr penibel darauf geachtet, nicht die falschen Farben zu tragen (das Lila von Florenz war nicht das Problem, aber die codierte Sprache von Fussball(feindschaften) erfordert es, auch andere Farben als potentiell verfänglich einzuschätzen). Der Fussball selber ist kaum der Rede wert, zu unserer Überraschung gewinnt das hölzernere Team – Neapel. Von den Fiorentiner Fans ist wenig zu sehen und zu hören. Wir probieren den neapolitanischen Gesängen zu folgen, die bei weitem melodischer und wortreicher wirken als das kakophone Silbengegröle der meisten (wahrscheinlich aller) deutschen Fangesänge (ja ich bin kein regelmässiger Stadiongänger). Wenn nicht gesungen wird, drehen alle eifrig an Sportzigaretten als wäre es Teil der Choreo und der wenige Pyro-Nebel vermischt sich mit den Weed-Wolken, die beständig über uns ziehen.

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Von Fuorigrotta und Bagnoli kann man bequem raus nach Pozzouli und weiter zu den Stränden bei Lucrino und Torregaveta fahren. Das Wasser ist hier vertraut undurchsichtig wie der Berliner Landwehrkanal und bei den fifty shades of braun, die meine Füße verschlucken, muss man unweigerlich an deutsche Politik oder aber den nicht allzu weit entfernten Hafen von Neapel denken, der als liquides Abort für jeglichen Müll fungiert. Touristen gibt es hier soviel wie Zeitungen am Strand – das Publikum ist angenehm proletarisch und ich drifte schon wieder in Zille-Zeichnungen ab.

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Am Abend treffen wir uns wieder mit einem Freund aus Pozzouli. Er fährt mit uns durch die Randgebiete der Stadt und schimpft über das enthemmte Fahrverhalten seiner Landsleute. Wir halten uns fest und lächeln angestrengt, als würde er gleich einen Tandemsprung mit uns machen. Weiter draußen stapelt sich immer noch der Müll. Vor einem Bahnübergang rennt ein weißer Hund bellend neben uns her, es wird surreal, ich muss an den Film „White Dog“ denken, wir beschließen nicht auszusteigen – tun es später aber doch.

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Es ist dunkel, wir laufen entlang ungenutzter Bahngleise. Das in die Ferne schwindende Hundegebell mischt sich mit dem Treiben einer nahen Roma-Behausung. Diese Baracken und informellen Siedlungen gibt es überall in der Stadt, vom Zentrum bis in die Peripherie. Nach den antiziganistischen Pogromen Ende 2008 in Ponticelli, am anderen Ende der Stadt, wurden und werden die Roma zunehmend aus der Stadt, in die infrastrukturell vernachlässigten Randgebiete gedrängt. Ähnlich wie in Deutschland und anderen Ländern Europas, ist es für diese Menschen, trotz ihrer rumänischen Staatsbürgerschaft, so gut wie unmöglich legale Arbeit zu finden. Die Stigmatisierung und die rassistischen Vorurteile sind weit verbreitet unter den Eingessenen.

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Dabei hat Neapel mit ganz ähnlichen Klischees und Vorurteilen zu kämpfen, die wie bei den Roma, je nach Gusto mal folkloristisch, mal chauvinistisch ausgelegt werden. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch und treibt viele junge Menschen in informelle und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse, die ihnen vor allem die Camorra, die regionale Mafia, anbieten kann. Die Mafiakriminalität floriert nicht nur am Stadtrand, dessen trauriges Sinnbild die baufälligen Wohnkomplexe (genannt Vele/“Segel“) in Scampia, im Norden der Stadt, wurden (die Kulisse für Roberto Savianos „Gomorrha“ und dem gleichnamigen Film). Auch in den ärmeren Vierteln des Zentrums gibt es sie (wenngleich Touristen davon unbehelligt bleiben, da die Mafia auch am Tourismus verdient). Wenn die Gewalt eskaliert (vor allem unter den rivalisierenden Camorra-Clans) und sich ins Stadtbild drängt, reagieren Politik und Exekutive mit dem gängigen Alarmismus und allerlei Repressalien. Ernsthafte bzw. nachhaltige Verbesserungen im Kampf gegen Armut und Korruption scheint es nach wie vor zu wenige zu geben.

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Als Tourist muss mich das nicht berühren, aber ignorieren lässt es sich kaum. Die meisten der Probleme sind in das Stadtbild und ihr Wesen eintätowiert. Kinder von Traurigkeit sind die Menschen hier trotz allem nicht. Es lohnt sich wiederzukommen.

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kleine Fußnoten:

neben der Lektüre von Roberto Savianos „Gomorrha“, lohnt sich auch der Artikel von Carl Melchers „Von Geistern und Ganoven“ in der Jungle World (Nr. 35), in dem er sich mit der morbiden Seite der Stadt beschäftigt; jedes Jahr im Juni findet das Napoli Teatro Festival Italia statt, mitsamt OFF-Sektion (E45 Napoli Fringe Festival)

 

von Rob Kraatz.