Die BORDERLINE PROZESSION – Multilayer und -dimensionstheater in Dortmund

Es gibt nichts zu verstehen, aber viel zu erleben. Wie auch im Dasein.

Normalerweise schrieben wir hier ja nicht über einzelne Inszenierungen, weil wir uns nicht als Kritiker sondern als Interessierte sehen – vornehmlich eben an der allgemein recht wenig besprochenen Arbeit der BühnenbildnerInnen am Theater. Aber diesmal soll es um eine Inszenierung als Ganzes gehen – eben weil sich hier gar nicht mehr trennen lässt, wer was beigetragen hat. In Dortmund ist mit Die Borderline Pozession – Ein Loop um das, was uns trennt von Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin (und ihrem Team, ihren Schauspielern, der Kostümbildnerin Mona Ulrich und dem Bühnenbildner Michael Sieberock-Serafimowitsch) nämlich etwas gelungen, dass selten passiert, und zwar, dass alles zusammengeht. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes ALLES. Dazu gleich mehr.

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Erst mal müsst ihr auf diesen Link  gehen und euch In A Manner Of Speaking von Tuxedomoon in Schleife anhören, während ihr das hier lest.
Es ist natürlich kein Ersatz, für das ganz große einlullen, einlassen, mitreißen, mitsingen wollen (wie es übrigens einige Theaterbesucher und sogar die Veranstaltungstechniker hinter ihren Pulten tun), Teil von etwas Ganzem sein wollen und in meinem Fall einfach Mitmachen wollen, das mich in den ersten 10 Minuten der BORDERLINE PROZESSION befallen hat, noch während des Einlasses, in dem aber Die Prozession schon läuft, die auch die nächsten 3 Stunden nicht abbrechen wird: die Kamera führt sie an, auf seinem Dolly umrundet der Kameramann ununterbrochen das Bühnenbild und zeigt uns das darin stattfindende Geschehen; er wird gefolgt von Schauspielern, Assistenten, dem Regisseur, immer wieder auch Zuschauern, die zusammen wunderschön und scheinbar unendlich dieses Lied singen. Wer nicht dran ist, an diesem Abend, schließt sich wieder der Prozession an, die nie abbricht, das Ritual ist, das uns alle im Raum anwesenden zu einer Gemeinschaft macht, und das wie das olympische Feuer immer am Laufen gehalten wird. Der Loop, den die Kamera fährt, ist der Kreis, der das Geschehen in sich einschließt, das genau wie der Kreis keinen Anfang und kein Ende hat.

Diese Raumanordnung schlägt das Thema des Abends vor und lädt zu einer spezifischen Art des Denkens ein; ein dialektisches Denken in Gegensätzen und Differenzen. Das Paar „Innen und Außen“ etwa zieht weitere Gegensatzpaare an, die einen Geschmack davon geben, was für die Figuren, die diesen zweigeteilten Raum der BORDERLINE PROZESSION bewohnen, alles auf dem Spiel steht: Wärme und Kälte, Sicherheit und Gefahr, Enge und Freiheit, das Eigene und das Fremde, privat und öffentlich, dazugehören und ausgeschlossen sein, Einblick und Ausblick, Zentrum und Peripherie, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Und auf einer existentiellen Ebene: Traum und Wirklichkeit, Geburt und Tod, Liebe und Hass, Krieg und Frieden, Alles und Nichts.*[i]

Was bei der Borderline Prozession passiert, sind Schichten – von Bildern, die man live auf der Bühne vor sich sieht; Bildern, die zwar live passieren, aber auf der anderen Seite des Bühnenbildes, und die man durch Fenster oder Türen erahnen kann; dann die Bilder des Geschehens, das Mithilfe der Kamera wiedergegeben wird, je nachdem, wo sie sich gerade befindet, das zeigend, was man gleichzeitig sieht – oder eben nicht. Dazu Schichten von Inhalten und Texten philosophischer, theoretischer oder banaler Natur, Zitaten, Liedtexten, die man liest oder hört – real gesprochenen und verstärkten Texten, gesungene Texte (real oder eingespielt), als Text auf den Bildern auf den Leinwänden projizierten Texten, und dazu die realen Geräusche, die Schauspieler auf der Bühne herstellen, sowie zugespielten Sound und Musik.

Alles passiert zur gleichen Zeit.

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Einer dieser Texte, der schon ganz am Anfang immer wieder mal gesprochen, mal projiziert wird, benennt einerseits das Gefühl der Überforderung, das durch diese Schichten von Bildern und Informationen entsteht und lädt gleichzeitig dazu ein, genauer hinzuschauen:

Wir nehmen das Bild nie vollständig wahr;
wir nehmen immer weniger wahr
nämlich nur das, was wir wahrzunehmen bereit sind.
Wir nehmen also normalerweise nur Klischees wahr.
Was wäre ein Bild, das kein Klischee ist?*[ii]

ein anderer lädt ein, das Geschehen genau und mit Misstrauen zu beobachten:

Betrachtet genau das Verhalten dieser Leute:
Findet es befremdend, wenn auch nicht fremd
Unerklärlich, wenn auch gewöhnlich
Unverständlich, wenn auch die Regel.
Selbst die kleinste Handlung, scheinbar einfach
Betrachtet mit Misstrauen!
Untersucht, ob es nötig ist Besonders das Übliche!
Wir bitten euch ausdrücklich, findet das immerfort
Vorkommende nicht natürlich!*[iii]

Und so kommt zu den inhaltlichen, ästhetischen, technischen, spielerischen Schichten, zur Prozession, dem Bühnenbild und der riesigen Halle, die für diese besondere Inszenierung überhaupt erst den Raum schafft, dem Geistesblitz des Kameraloops, der das Alles zusammenhält, auch noch die Wahrnehmung des Zuschauers ins Spiel – und schon sind wir mittendrin, denn wir merken, wir gestalten mit unserer Wahrnehmung unsere Welt mit, lesen Zeichen, die Vertraut sind und ignorieren diejenigen, die uns unbekannt sind oder uns Unbehagen bereiten. Auch an diesem Abend, auf dieser Bühne – die auch aus Zeichen, Bruchstücken der Realität besteht – aber genauso in sozialen Netzwerken oder Informationsplattformen, auch als Großstadtmenschen in unübersichtlichen Leben haben wir unser Talent entwickelt, nur wahrzunehmen, was wir wahrnehmen wollen, eben weil es gar nicht anders geht, weil ja alles gleichzeitig stattfindet und man immer unbefriedigt zurückbleiben wird, wenn man den Anspruch hat, dieses Alles auch noch verstehen zu wollen, statt sich auf sein Smartphone-Display zu verlassen. Hier passiert das Gegenteil, uns wird versichert, wir müssten nicht verstehen, und trotzdem klebt unser Blick gierig an allen Leinwänden, pendelt zwischen den Räumen hin- und her, begierig aufsaugend, was es zu sehen gibt und doch immer im Wissen, was zu verpassen.

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Dabei passiert alles, was die Schauspieler da auf der Bühne machen, fast wie nebenbei, es sind einfache Tätigkeiten. Die Kioskfrau öffnet den Kiosk – und schließt ihn wieder. Und das immer wieder, eine Stunde lang. Die Überforderung entsteht also wirklich in der versprochenen, und auch eingehaltenen Gleichzeitigkeit, die wie eine Drohung klingt und entsprechend zugleich hoch gegriffen ist und voll erfüllt wird. Alles zur gleichen Zeit und dafür eine Zeitlang, als kontraintuitive Erzählung, in der auch die Wiederholung Teil der Erzählung wird und über sich hinauszuweisen scheint, zu einer Parabel über unser bewachtes, sicheres Dasein wird, das von außen ähnlich immergleich und unfrei erscheinen mag wie die Tätigkeiten dieser über 50 Figuren in den ersten beiden Stunden der Borderline Prozession. Der zitierte Gegenwartsshock*[1] stellt sich ein als Überforderung mit gleichzeitigem Wunsch nach Mehr.
Ich habe zum Beispiel dieses Bild gar nicht gesehen, hätte ich aber gerne:
(„Extremist“) Carl
Guckt durch die Tür in Garage
Steht in Garage, guckt sich in Garage um
Nimmt Kiste aus Regal, zieht sich um – Salafist
Nimmt „Gebetsteppich“ aus Regal, betet
Zieht sich aus, steht in Garage, nimmt Kiste aus Regal
Zieht sich um – Nazi, vermummt
Zerstört Kisten, boxen, treten
Zieht sich um – SS Uniform
Richtet Haare, Hitlergruß
Arm fängt an, zu zittern, hat Schmerzen, versucht zu lächeln, verzieht Gesicht, versucht, den Arm oben
zu halten, weint, Körper zittert, schreit „Heil!“, Arm sinkt
Zieht Jacke aus, versucht, Stiefel auszuziehen
Zieht Uniform aus, wirft alles in Kiste
Legt sich in Pool*[1]

Auch inhaltlich geht es also um Alles – mit Gedanken, Bildern und Musik darüber, was die Schöpfung und ihre Einzelteile eigentlich zusammenhält – aus 5000 Jahren Kulturgeschichte.* [1]
Herkunft, Religion, Europa, Kultur (als Zentraler Begriff im diskursiven Waffenarsenal der Alternative für Deutschland*[1]), natürlich die AFD und Frauke Soundso, im letzten Sommer wohl auch um Griechenland und in den nächsten Vorstellungen höchstwahrscheinlich Trump.
Das Allumfassende, Gott, Glaube, Anfang und Ende des Daseins sind zurück auf der Bühne, und sehen dabei irre gut aus. Inszenierte Realität findet in einem beängstigend genauen und kleinteiligen Bühnenbild statt und das Spiel hat eine reale Körperlichkeit, die unter die Haut geht. Ästhetisch erinnert das an Fotos von Gregory Crewdson, der in seinen sehr aufwendig produzierten Fotos menschliche Zustände zuzuspitzen scheint, nur erleben die Figuren das, was sie hier tun, ja wirklich, im Moment, vor unseren Augen oder eben hinter der Wand vor unseren Augen. Ähnlich wie bei Gregory Crewdson wissen wir nichts über das Davor oder das Danach, alles ist immer Gegenwart und eben, gleichzeitig. Die Zuspitzung ihrer Daseinszustände findet in realen Kulissen (nein, das ist kein Widerspruch) statt, die Teils als Bruchstücke von Realität, Teils als hyperrealistische Hintergründe für die Figuren wirken und so ihre Geschichten miterzählen (die Kostüme übrigens auch). Das Bühnenbild ist ihre sozio-typische wie auch ästhetische Welt und bestimmt damit auch die Grenze dieser Welt. Sind sie außerhalb, werden sie wieder Teil der Prozession, des Rituals.

Im ersten Teil werden die Banalität und Monotonie des Daseins, im zweiten die (private) Krise geprobt, mit großer Ruhe und Ernsthaftigkeit werden für die Figuren scheinbar wichtige aber für uns Teils absurde oder zwanghafte, Teils brutale Dinge getan, genauso auch die Texte vorgetragen, von denen man sich wünscht, dass sie auch verstanden werden. Im 3. Teil werden wir vom Ernst erlöst und mit großer Albernheit in Form von 23 als Lolitas verkleidete SchauspielerInnen konfrontiert, die unter anderem Napoleon in einer gläsernen Bushaltestelle aufbahren (Wer Napoleons Tod inszeniert, inszeniert die Utopie einer Welt ohne Männer wie ihn. Punkt.* [1]) und dazu Texte von Jonathan Messe zur totalen Kunst sprechen.
3 Stunden richtig gutes Theater ist das, mit SchauspielerInnnen, die das Spielfeld mit Selbstverständlichkeit bewohnen, einer Szenografie, die zum bewohnen einlädt und gleichzeitig trennt und zusammenführt (sowohl die Zuschauer als auch die Akteure), und einem Maß von Ineinandergreifen von Spiel, Inhalt, Bild, Ton, Licht, Video, Bühnenbild, Kostüm, Maske, Technik, Ort, Digitalem und Realem, Absicht und Rezeption, das selten ist, neidisch und glücklich macht, und sehr inspirierend ist.

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ein Foto von Gregory Crewdson, das mich an BP erinnert. Ein tolles Interview mit ihm hier.

[i] aus dem Infomaterial für die Presse

[ii] aus „Das Bewegungs-Bild 1“ von Henri Bergson und Gilles Deleuze

[iii] Geschichte Einer Reise, aus: „Die Maßnahme“ von B. Brecht

Fotos von der Borderline Prozession © Marcel Schaar